Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener ist bei der SIEMENS AG tätig. Nach Forschungstätigkeit beim DLR und mehrjähriger Beratertätigkeit bei McKinsey & Co. übernahm er die Leitung der Gasturbinenentwicklung bei Siemens. Danach war er der CTO des Bereiches Industry Solutions sowie der Leiter der Vorfeldentwicklung von Siemens Industry. Ab Februar 2016 leitet er die „External Cooperation“ in der Siemens Corporate Technology, die die Forschungspolitik und Förderungsausrichtung national und international für die Siemens AG verantwortet.
Prof. Wegener, Sie sind Sprecher des ZVEI-Führungskreises Industrie 4.0. Welche Etappenziele haben Sie bisher erreichen können?
Der ZVEI Führungskreis Industrie 4.0 existiert seit Ende 2013 und hat sich zum Ziel gesetzt, die „Operational Technology (OT)“ anschlussfähig an die IT zu machen. Das kann man sich wie folgt vorstellen: In einer Fabrik gibt es einen sogenannten Shop Floor – dort stehen die Maschinen – und einen Office Floor, wo Server, PCs, Laptops und Smartphones sind. Unser Ziel ist die Interoperabilität im Shop Floor herstellerübergreifend deutlich zu erhöhen und darüber dann eine Anschlussmöglichkeit an die IT im Office Floor zu gestalten. Hierzu haben wir das Konzept der Industrie 4.0-Komponente entwickelt, die prinzipiell aus einem OT-Device und einer sogenannten Verwaltungsschale besteht.
Aktuell sind wir schon sehr weit. Zusammen mit der Plattform Industrie 4.0 haben wir in den letzten Jahren das Konzept der Verwaltungsschale mit Hilfe des neu entwickelten Referenz-Architektur-Modells RAMI 4.0 detailliert, um die Anforderungen aus der Fabrikautomatisierung voll abbilden zu können. Es ist eine riesige Community um die Verwaltungsschale entstanden. Zur Zeit planen die Verbände VDMA und ZVEI sogar die Gründung einer gemeinsamen Verwaltungsschalen-Nutzerorganisation, um potentiellen Anwendern in der Industrie entsprechende Inhalte zentral zur Verfügung stellen zu können.
Neben der technischen Detaillierung wurden auch Ansätze zur Standardisierung für Industrie 4.0 erarbeitet, zu dessen Koordinierung das SCI4.0, also das „Standardization Council Industrie 4.0“ in 2015 gegründet worden ist. Das SCI4.0 gibt jedes Jahr eine „Standardization Roadmap Industrie 4.0“ heraus, die alle „Industrie 4.0“-spezifischen Standards beschreibt. Mitte Juli 2020 wurde die vierte Version veröffentlicht – erstmalig direkt im internationalen Rahmen. Das Echo war sehr positiv und unterstreicht einmal mehr die enorme Bedeutung von „Industrie 4.0“, und nicht nur in Deutschland sondern vor Allem auch auf internationaler Ebene.
Aktuell wird die Corona-Krise oftmals als Beschleuniger der Digitalisierung beschrieben. Wie ist Ihre Sichtweise dazu?
Im Bereich der Digitalisierung sind einige Konzerne und einige KMUs „Front Runner“, aber der Großteil der deutschen KMUs sind leider noch recht zurückhaltend bei „Industrie 4.0“.
Das ändert sich aber gerade durch zwei Faktoren: Die jahrelange Bespielung dieses Themas hat sicherlich die Aufmerksamkeit für die Thematik auf nationaler und europäischer Ebene deutlich erhöht, nicht zuletzt durch Konferenzen wie das „IT Excellence Forum“. Der zweite Faktor ist ganz klar Corona. Viele Dinge in der Arbeitswelt waren durch die Corona-Restriktionen nur noch digital möglich. Wo vor Corona gesagt wurde: „Digital brauche ich nicht!“ haben wir jetzt alle gelernt, dass die Digitalisierung uns nicht nur sehr hilft, sondern manche Vorgänge auch effektiver und effizienter gestalten lässt.
Die Digitalisierung wird auf einmal von der zivilen Gesellschaft und der Arbeitswelt angenommen.
Die Nachfrage nach Ansätzen zur Digitalisierung der Wertschöpfungskette, zum Beispiel bei „Remote Service“-Anwendungen sind enorm angestiegen. Diesen Schub hätten wir vermutlich niemals durch Power Points, Keynotes oder Podiumsdiskussionen erreicht.
Wir freuen uns sehr auf Ihren Beitrag „Das digitale Typenschild als Enabler für die industrielle Datenwirtschaft“ auf unserem IT Excellence Forum 2020. Was genau ist ein digitales Typenschild und welche Rolle spielt es in der Industrie 4.0?
„Industrie 4.0“ zielt auf die herstellerübergreifende Interoperabilität von Geräten und Maschinen in der „Operational Technology (OT)“ ab, die dann als „Industrie 4.0-Komponente“, also OT-Device mit Verwaltungsschale, an IoT-Plattformen angeschlossen werden können. Darauf basierend können neue datengetriebene Geschäftsmodelle entwickelt werden, die dann die Basis für die digitale Datenwirtschaft bilden.
Grundvoraussetzung hierfür ist das Konzept der Verwaltungsschale, auf das sich alle Hersteller einigen. Bildlich kann man sich die Verwaltungsschale wie ein Bücherregal vorstellen, das aus einzelnen Fächern besteht, in denen wiederum Bücher stehen. Die Bücher entsprechen den Teilmodellen, also Software für einen bestimmten Use Case, die dem Hersteller der Maschine oder dessen Nutzer gehört.
Nun ist das Aufstellen eines sinnvollen Konzeptes das eine, die Umsetzung des Konzeptes das andere. Um das Interesse an der Umsetzung der Verwaltungsschale bei der Industrie zu wecken, haben wir uns den Use Case „Digitales Typenschild“ überlegt, der praktisch alle betrifft.
Jeder Hersteller muss sein Produkt mit einem Typenschild bekleben, das oft von der Größe nicht ausreicht, um alle vorgeschriebenen Informationen abzubilden. Deswegen haben wir vorgeschlagen, einen QR-Code zu verwenden, über den dann digital auf die Produktdaten auf der Herstellerinternetseite zugegriffen werden kann. Hierzu haben wir auf der SPS-Messe im November 2019 einen kleinen Demonstrator dem Fachpublikum vorgestellt, der auf hohes Interesse gestossen ist.
Über diesen Use Case “Digitales Typenschild“ erhoffen wir nun den praktischen Durchbruch für das Konzept der Verwaltungsschale. Weitere Use Cases können dann folgen und ermöglichen so Schritt für Schritt die Digitalisierung der Industrie.